Buchhandlung Schachtner

Suche

RevancheOverlay E-Book Reader

Revanche

Wie Putin das bedrohlichste Regime der Welt geschaffen hat | Michael Thumann

E-Book (EPUB)
2024 Verlag C.h.beck
Auflage: 1. Auflage
302 Seiten
ISBN: 978-3-406-81888-2

Rezension verfassen

€ 11,99

in den Warenkorb
Kurztext / Annotation
In seinem SPIEGEL-Bestseller zeichnet der Moskau-Korrespondent der ZEIT Michael Thumann auf atemberaubende Weise den Absturz Russlands in eine zunehmend totalitäre Diktatur und den Weg in Putins imperialistischen Krieg aus nächster Nähe nach. Das Motiv des Diktators und seiner Getreuen: Revanche zu nehmen für die demokratische Öffnung nach 1991 und die vermeintliche Demütigung durch den Westen. Putins Herrschaft radikalisiert sich weiter. Es ist das bedrohlichste Regime der Welt. Die grundlegend überarbeitete und aktualisierte Taschenbuchausgabe enthält bislang unveröffentlichte Einsichten über Putins Verhältnis zu den radikalen Nationalisten im eigenen Land und die Stabilität seiner Herrschaft nach dem Aufstand und dem Tod seines Widersachers Prigoschin.

Michael Thumann ist Außenpolitischer Korrespondent der ZEIT und lebt in Moskau. Seit den 1990er Jahren berichtet er für die ZEIT aus Russland, Osteuropa und dem Nahen Osten. Seine Artikel, Podcasts und Bücher über Russland als Vielvölkerstaat und den neuen Nationalismus Putins haben unseren Blick auf dieses Land erweitert. Russland kennt er schon aus Studienzeiten, als er u.a. an der Moskauer Lomonossow- Universität studierte.

Beschreibung für Leser
Unterstützte Lesegerätegruppen: PC/MAC/eReader/Tablet

Ein russischer Panzer dringt am 24. Februar 2022 auf ukrainisches Gebiet vor

1 Angriff Russland sinnt auf Revanche

Am Tag, als Wladimir Putin sein Volk für den Krieg mobilisierte, traf ich einen alten Moskauer Freund. Wir gingen in ein Café in der Nähe der Christi-Erlöser-Kathedrale, wo sich üblicherweise viele junge Leute einfanden. Nun war es fast leer an diesem 21. September 2022, an den spärlich besetzten Tischen saßen nur Frauen. «Die Männer verstecken sich wohl zuhause, falls die Feldjäger kommen», mutmaßte mein Freund. Auch er fühlte sich nicht sicher. Zwar war er schon Ende 40, aber er hatte in der Armee gedient und durfte das Land nicht verlassen. Er erzählte mir von seinem Sohn, der 31 Jahre alt war und in Moskau einen sicheren Job in der Verwaltung hatte. Noch nicht verheiratet, keine Kinder, ein Topkandidat für die Front. «Wir telefonieren alle paar Stunden, und ich dränge ihn zu gehen.» Der Sohn wehrte ab, er glaubte, das betreffe ihn alles nicht. Der Krieg, die Einberufungen, die Front, der Tod oder das Straflager, wenn er zurückwiche oder freiwillig in Gefangenschaft ginge. Das hatte doch mit seinem Leben nichts zu tun. Sein Vater sah das anders. Es sei nur eine Frage der Zeit, bis das sein Leben sei. «Wenn sie mehr Soldaten brauchen, holen sie uns alle.» Deshalb plante er sorgfältig die Ausreise des Sohnes. Nicht darüber reden, schreiben, texten. Flüge kaufen und das Rückflugticket an der Grenze zur Tarnung vorzeigen. Flucht nach Istanbul. Hartnäckig versuchte er, seinen Sohn zu überzeugen. Bat ihn, nervte ihn, schrie ihn an: «Geh!» Es zerriss ihm das Herz. Zwei Tage nach unserem Treffen rief mich mein Freund an. Sein Sohn sei gerade in die Türkei ausgeflogen. Er wisse nicht, ob er ihn je wiedersehen würde.

Es war die richtige Entscheidung. Der russische Herrscher hatte den Krieg im September 2022 von der Ukraine auf die eigene Bevölkerung ausgeweitet. Junge Leute wie der Sohn meines Freundes wurden seit Ende September von der Straße wegmobilisiert. Die Einberufungsbefehle brachten der Hausmeister, der Pizzabote, der Stromableser, der Blockpolizist. In Moskau fuhren Busse durch die Stadt, wo sich jedermann an die Front melden konnte. Wer gegen den Krieg protestierte, wurde in Handschellen an die Front geschickt. Ich sprach und textete Tag und Nacht mit Freunden und Bekannten. Über Grenzübergänge. Über die Kinder. Über Asylanträge und das Leben im Westen. Viele von ihnen gingen bis Ende September 2022, als Russland die Grenzen für seine Bürger im wehrfähigen Alter weitgehend schloss.

Das Jahr 2022 brachte den Krieg nach Europa zurück. Es ist das größte Beben seit dem Zweiten Weltkrieg und hat das Leben der Europäer tiefgreifend verändert. Und wir befinden uns erst am Anfang dieser neuen Epoche. Putins verbrecherischer Angriffskrieg hat Zehntausenden Ukrainern und Ukrainerinnen das Leben geraubt, er hat Millionen das Dach über dem Kopf weggerissen und sie zu Flüchtlingen gemacht. Der europäische Kontinent ist in eine gesellschaftliche und wirtschaftliche Krise gestürzt, von der niemand weiß, wann und wo sie endet. Wachsende Zweifel am politischen System und Geldentwertung erschüttern viele Staaten, auch im globalen Süden. An den Folgen dieses Krieges wird die Menschheit noch Jahre zu tragen haben. Die Ursachen liegen nicht in geopolitischen Großmacht-Konkurrenzen oder kapitalistischen Spekulationsstürmen. Schuld daran sind ein Mann, sein Regime und seine Unterstützer. Sie haben ohne Not und ohne Bedrängnis, aber mit imperialer Gebärde ein Nachbarland überfallen. Mit furchtbaren Konsequenzen für die ganze Welt.

Wladimir Putin war ein schmalgesichtiger und fast schüchterner Regierungschef, als ich ihn Ende 1999 zu einem ersten Interview traf. Er wirkte unbeholfen und kantig in seinen Bewegungen, sprach ein sehr umständliches Russisch mit vielen bürokratischen