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Putins Krieg gegen die Frauen

Sofi Oksanen

E-Book (EPUB)
2024 Verlag Kiepenheuer & Witsch Gmbh
Auflage: 1. Auflage
336 Seiten
ISBN: 978-3-462-31294-2

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€ 19,99

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Kurztext / Annotation
Der russische Angriffskrieg in der Ukraine ist in hohem Maße ein Geschlechterkrieg: Russland setzt sexuelle Gewalt in der Ukraine als Waffe ein, aber Frauenfeindlichkeit ist auch ein Instrument der internen Zentralisierung der Macht in Russland. Und sie ist ein Werkzeug des Imperialismus. Das Grauen, das Familien des Baltikums bereits einmal erleben mussten und das bis heute Wunden in den Familien hinterlassen hat, Deportationen, Besetzungen, Terror, Folter, Nazibeschuldigungen, Vergewaltigung, wiederholt sich, aber wie nie zuvor können Kriegsverbrechen dokumentiert werden, weil Journalistinnen, Richterinnen, Staatsanwältinnen und Anwältinnen beteiligt sind. Die Hoffnung besteht, dass die Straffreiheit Russlands ein Ende haben wird. In diesem sorgfältig recherchierten Essay zeigt sich Sofi Oksanen erneut als absolute Kennerin Russlands, seiner Geschichte und seiner strategischen Frauenfeindlichkeit.

Sofi Oksanen, geboren 1977, Tochter einer estnischen Mutter und eines finnischen Vaters, studierte Dramaturgie an der Theaterakademie von Helsinki. Ihr dritter Roman, »Fegefeuer«, war monatelang Nummer eins der finnischen Bestsellerliste und wurde mit zahlreichen Preisen ausgezeichnet, u. a. dem Finlandia-Preis, dem Literaturpreis des Nordischen Rates und dem Prix Femina. Der Roman erschien in über vierzig Ländern und machte die Autorin auch in Deutschland zu einer der wichtigsten Vertreterinnen der internationalen Gegenwartsliteratur. Sofi Oksanen lebt in Helsinki.

Beschreibung für Leser
Unterstützte Lesegerätegruppen: PC/MAC/eReader/Tablet

Das Foto

Ein Volk wird vernichtet durch die Vernichtung seines Gedächtnisses

An der Wand meines Arbeitszimmers hängt ein Schwarz-Weiß-Foto meiner Großtante aus der Zeit, in der sie noch sprach. Ihre Mutter sitzt inmitten der Kinderschar. Ihr Jüngstes hält sie auf dem Schoß. Meine Großtante blickt schüchtern in die Kamera, meine Großmutter ist zwei Jahre alt, sie alle tragen an den Füßen Lederschuhe, die ihr Vater ihnen gemacht hat. Im Hintergrund sieht man den sommerlichen Garten ihres Hauses, die Pfingstrosen blühen. Menschen, die mich in meinem Arbeitszimmer besuchen, wundern sich nicht über das Foto, und dafür gibt es auch keinen Grund - es wirkt wie ein völlig normales Familienporträt aus dem letzten Jahrhundert. Darauf sind keine estnische Flagge oder andere zu sowjetischer Zeit verbotene Symbole des selbstständigen Estlands zu sehen, aber das Foto entstand in der Zeit »eines liquidierten Staates«. Das genügte, um es fragwürdig zu machen.

Nach Finnland gelangte das Foto erst Anfang der 1990er-Jahre, als Estland erneut selbstständig geworden war und wir es endlich wieder wagten, auch Fotos in den Koffer zu packen. Das hätten wir uns zu sowjetischer Zeit nicht getraut, denn das Foto hätte bei den Kontrollen an der Grenze gefunden werden können. Die alten Fotos gehörten bei der Grenzkontrolle zu der langen Liste von Gegenständen auf der Zollerklärung, die weder in die Sowjetunion importiert noch von dort ausgeführt werden durften, sodass ein Schmuggelversuch an der Grenze zu einer Menge Fragen geführt hätte, warum wir das Foto bei uns haben und welche Bedeutung es hat. Was auch immer wir geantwortet hätten, das Ergebnis wäre dasselbe gewesen: Man hätte uns das Foto weggenommen. Für eine estnische Familie bedeutete die sowjetische Besatzung, dass sie Fotos, die als gefährlich angesehen wurden, aus den Fotoalben entfernten. Sie wurden vernichtet, in der Erde vergraben oder hinter den Tapeten versteckt, so wie bei uns, und sie wurden nur in vertrauenswürdiger Gesellschaft hervorgeholt. Sich an die Familiengeschichte, an nahe Angehörige und Verstorbene zu erinnern, war in der Sowjetunion ein privates Ereignis. Ich lernte meine Verwandten durch diese Fotos kennen. Sie existieren auf den versteckten Fotos und in den Geschichten über sie. Durch die Fotos bekommen sie ein Gesicht.

Der Kontrast zu Finnland, wo ich geboren wurde und zur Schule ging, war stark. In Finnland ist es üblich, an den Gedenktagen auf dem Friedhof für die Verstorbenen zu Weihnachten und am Unabhängigkeitstag Kerzen anzuzünden. Mein Finnland-Großvater war ein finnischer Kriegsveteran und sein Zwillingsbruder ein gefallener Held. Auch die Kriege waren Teil meiner Familiengeschichte, aber die Grabkerzen, die in Finnland an Gedenktagen entzündet werden, erinnerten mich auch an diejenigen, an die wir uns nur in Gedanken, nur in vertrauenswürdiger Gesellschaft erinnern durften. Die finnischen Flaggen, die am Unabhängigkeitstag gehisst wurden, erinnerten mich an die Flagge Estlands, die ebenso wie die anderen nationalen Symbole des »liquidierten Staats« verboten waren, einschließlich der Verwendung der blau-schwarz-weißen Farbkombination zum Beispiel in der abstrakten Kunst. Als ich wie die anderen Schülerinnen und Schüler in der Unterstufe das Lied auswendig lernte, das beim Hissen der Fahne gesungen wird, peinigte mich das, weil so etwas unter der sowjetischen Besatzung in Estland nicht möglich war. Für meine Klassenkameraden war die Möglichkeit, die Worte des Liedes in der Schule auswendig zu lernen, so selbstverständlich, dass es sie anödete. Wir dagegen konnten die Symbole des selbstständigen Estlands nicht einmal in Finnland zeigen, das damals die Zeit der Finnlandisierung erlebte; für Finnland existierte kein selbstständiges Estland, denn Finnland musste in der Öffentlichkeit bezüglich der von der Sowjetunion besetzten Gebiete der sowjetischen Linie folgen. Die Sowjetunion behiel