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Berlin-Linz

Wie mein Vater sein Glück verbrauchte | Tarek Leitner

E-Book (EPUB)
2020 Christian Brandstätter Verlag
Auflage: 1. Auflage
240 Seiten
ISBN: 978-3-7106-0447-8

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Kurztext / Annotation
'Ich hielt das Leben meines Vaters für das allerunspektakulärste', sagt Tarek Leitner - keine Heldentaten, keine menschlichen Abgründe, keine tragischen Schicksalsschläge. Und doch berührt die Geschichte das Leben seiner Familie in der Bischofstraße in Linz. Dort war das Zentrum des Februaraufstands 1934, dort lebte Adolf Eichmann und der letzte vor dem Holocaust geborene Linzer Jude. Das Buch erzählt anhand zweier Reisen von Berlin nach Linz, einmal durch das nationalsozialistische Deutschland von 1938, einmal durch das in Trümmern liegende Deutschland von 1945, die bewegende Geschichte seines Vaters. Beide Male reiste er auf der Reichsautobahn: Einmal als 12-Jähriger am Steuer eines neu gekauften Wagens, einmal auf dem Fahrrad, das er gegen seine Uhr eingetauscht hatte. Konnte man damals überhaupt 'unpolitisch' sein? Ist das Glück eines Menschen endlich, und wie viel davon verbraucht das Überleben im Krieg? Eine Erzählung über das Aufregende im vermeintlich Unspektakulären.

Tarek Leiten, Anchorman der 'Zeit im Bild', Österreichs meistgesehener Nachrichtensendung, dreifacher Romy-Preisträger als beliebtester Moderator, interessiert sich für die Umgebungen unseres Lebens. Im Brandstätter Verlag veröffentlichte er Mut zur Schönheit (2012), Wo leben wir denn? (2015) und zuletz Hilde & Gretl (2018).

Beschreibung für Leser
Unterstützte Lesegerätegruppen: PC/MAC/eReader/Tablet

Berlin Linz 1938

Das also ist unsere neue Hauptstadt, sagte Rudolf, mehr zu sich als zu meinem Vater. Sie hatten eine lange Fahrt hinter sich. Der Zug fuhr bereits langsam. Er ratterte und rumpelte über die vielen Weichen vor dem Bahnhof, ein riesiger Gleiskörper, auf dem ein Kopfbahnhof saß. Den Empfang begleitete ein Gemisch aus Rauch und Ruß, aus dem Geruch von Öl und Hausbrand, die Geräusche von Zischen und Hämmern. Mein Vater liebte diese Atmosphäre. In Linz, erzählte er, stand er gerne auf der Brücke über den Bahngleisen und ließ sich von den Zügen, die darunter passierten, in dicken Rauch einhüllen. Dann näherten sie sich den drei großen Backsteinbögen des Anhalter Bahnhofs, die alle Gleise aufnahmen. Berlin nahm vieles in sich auf, auch die Funktion der alten Hauptstadt. Jetzt also Berlin, dachte mein Vater, nicht mehr Wien. Aber das war Schulwissen.

Es war ein Junimorgen im Jahr 1938, kurz vor acht, als der Zug in Berlin einfuhr.

Im Juni 1938 holte die deutsche Geschichte kurz Atem. Es war keine Atempause, mehr ein kurzes und flüchtiges Einatmen. Kurz zuvor, im Frühjahr, hatte sich die Welt verwandelt. Zuerst durch rhetorischen Druck Hitlers gegen die österreichischen Machthaber, dann durch den Druck der Wehrmacht, die die Waffen nur zu zeigen brauchte, dann war Österreich von der Landkarte verschwunden. Wir weichen der Gewalt, hallten Kanzler Schuschniggs Worte in den Ohren Rudolfs nach. Das war im März. Nicht, dass es dann ruhig war. Die Unterwelt, wie Carl Zuckmayer schrieb, hatte ihre Pforten aufgetan und ihre niedrigsten, scheußlichsten, unreinsten Geister losgelassen. Aber ihr Tun war die neue Normalität. Und im Herbst blies die Geschichte den heißen Atem der Hetze wieder aus, in die Menschen hinein. Sie waren empfänglich dafür, und das entlud sich in Pogromen. Auch in Linz wurde die Synagoge niedergebrannt.

Im Juni allerdings erreignete sich innerhalb der neuen Reichsgrenzen nichts, was den Geschichtsbüchern Struktur gibt. Es ist die Zeit einer ersten geringfügigen Ernüchterung nach dem Taumel der Anschlussund Abstimmungstage im März und April. Der Juni 1938 gibt keinen Stoff für Kapitelüberschriften.

Nur dem Leben meines Vaters gab dieser Juni eine Kapitelüberschrift. Er bildete den Rahmen für den Lebensabschnitt zwischen den beiden Reisen Berlin - Linz. Aber das wusste er damals natürlich nicht.

Rudolf, sein Vater, spürte, dass etwas ins Rutschen gekommen war, dass die Stabilität seiner bürgerlichen Welt nun endgültig der Zerbrechlichkeit gewichen war. Nicht wie um 1900, der Zeit des Fin de Siècle, als das Bürgertum zwischen Endzeit und Aufbruchstimmung schwankte. Jetzt war es ein Stück weit klarer, wenn auch nicht gewiss. Obwohl, Rudolf war nicht politisch, sagte er von sich, und sagte mein Vater über ihn. Aber wer 1938 nicht politisch war, konnte trotzdem so tief im christlich-sozialen Milieu verwurzelt sein, dass diese unverrückbare Selbstverständlichkeit des bürgerlichen Kleinunternehmers, meines Großvaters also, tatsächlich als unpolitisch durchging.

Filmstills aus Amateurfilmaufnahmen Rudolfs: er und mein Vater an der Tür der Bischofstraße 3.

Die Nationalsozialisten lehnte er nur insofern ab, als er sie nicht ernst nahm. Und da reihte er sich unter die vielen Bürgerlichen ein, die Hitler schlicht für einen Trottel hielten, und schwiegen, bis es zu spät war. Jetzt regierte Hitler sein Land. Als vier Jahre zuvor in unmittelbarer Nachbarschaft seiner Wohnung in Linz auf den Straßen geschossen wurde, und seinen Sohn, meinen Vater also, die Geschichte im engsten Sinn des Wortes streifte, waren es schließlich die Sozialdemokraten, die das angezettelt hatten. Die neue Hauptstadt war nur eine von vielen Wendungen auf diesem unruhigen Kontinent, seit Rudolf den Weltenlauf bewusst mitverfolgte. Das war