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Echtzeitalter

Roman | Deutscher Buchpreis 2023 | Tonio Schachinger

E-Book (EPUB)
2023 Rowohlt Verlag Gmbh
Auflage: 1. Auflage
368 Seiten
ISBN: 978-3-644-01446-6

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€ 19,99

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Kurztext / Annotation
«Ein Roman, der grundsätzlich den richtigen Ton trifft, zwischen spöttischer Distanz, Analyse und Einfühlung, sodass sich das herzerwärmende Tschick-Gefühl von Wolfgang Herrndorf einstellt.» ORF Ein elitäres Wiener Internat, untergebracht in der ehemaligen Sommerresidenz der Habsburger, der Klassenlehrer ein antiquierter und despotischer Mann. Was lässt sich hier fürs Leben lernen? Till Kokorda kann weder mit dem Kanon noch mit dem snobistischen Umfeld viel anfangen. Seine Leidenschaft sind Computerspiele, konkret: das Echtzeit-Strategiespiel Age of Empires 2. Ohne dass jemand aus seiner Umgebung davon wüsste, ist er mit fünfzehn eine Online-Berühmtheit, der jüngste Top-10-Spieler der Welt. Nur: Wie real ist so ein Glück? Tonio Schachinger erzählt von einer Jugend zwischen Gaming und Klassikerlektüre, von Freiheitslust, die sich bewähren muss gegen flammende Traditionalisten - und von dem unkalkulierbaren Rest, der nicht nur die Abschlussklasse 2020 vor ungesehene Herausforderungen stellt. Dabei sind die Wendungen so überraschend, sein Humor so uneitel und nahbar: Echtzeitalter ist Beispiel und Beweis für die zeitlose Kraft einer guten Geschichte. Und ein großer Gesellschaftsroman.

Tonio Schachinger, geboren 1992 in New Delhi, studierte Germanistik an der Universität Wien und Sprachkunst an der Universität für Angewandte Kunst Wien. Nicht wie ihr, sein erster Roman, wurde mit dem Förderpreis des Bremer Literaturpreises ausgezeichnet und stand 2019 auf der Shortlist zum Deutschen Buchpreis, den er 2023 für seinen zweiten Roman, Echtzeitalter, erhielt. Tonio Schachinger lebt in Wien.

Beschreibung für Leser
Unterstützte Lesegerätegruppen: PC/MAC/eReader/Tablet

10

Till hat einige Hobbys ausprobiert. Er hatte Klavierunterricht, ist Tischtennis spielen gegangen, in den Judokurs und zu den Pfadfindern, und in seinem Zimmer kann man die Relikte all dieser Hobbys sehen: die zerfledderten Noten in seinem Bücherregal, den Judoanzug mit dem weiß-gelben Gürtel ganz unten im Kleiderschrank und, am offensichtlichsten, das Teleskop, das sein Vater ihm letztes Jahr in der Hoffnung geschenkt hat, Astronomie könnte vielleicht Tills Hobby werden, hätte er nur ein eigenes Teleskop.

Keiner dieser Beschäftigungen ist Till aus eigenem Antrieb nachgegangen, aber was heißt das schon, aus eigenem Antrieb? Wie soll er wissen, ob das kurze Aufflackern eines Interesses, das er spürt oder eben nicht, das ihn dazu bringt, bei etwas mitzumachen oder eben nicht, und der vorbeihuschende Schatten der Gleichgültigkeit, der ihn wieder aufhören lässt, Spiegelungen der Welt um ihn herum sind oder tiefere Hinweise darauf, was er wirklich will?

Tills Eltern kennen sich nicht gut genug aus, um einen Unterschied darin zu sehen, ob ihr Sohn mit dem Xbox-Controller in der Hand in seinem Sitzsack liegt und Radio Los Santos hört, während er auf einer Motocross-Maschine durch die Wüste fährt, oder ob er in völliger Stille stundenlang durch die Berge Alaskas reitet, um einen legendären Grizzly zu jagen, zu zerlegen und seine Einzelteile zu verkaufen.

Sie haben kein Gefühl dafür, ob er sich gerade mitten in einem Onlinematch oder an der zentralen Stelle einer Mission befindet, wenn sie sein Zimmer betreten und ihn bitten, kurz auf Stopp zu drücken, oder ob er nur so vor sich hin spielt, Menschen ersticht und über die Dächer von Damaskus flüchtet.

Ja, Tills Eltern könnten nicht einmal den fundamentalen Unterschied zwischen RTS-Spielen wie League of Legends, Dota oder Age of Empires erkennen, bei denen Till aufrecht an seinem PC sitzt und hoch konzentriert spielt, unfähig, einen anderen Gedanken zu fassen, weil er jede Sekunde in Echtzeit strategische Entscheidungen treffen und ausführen muss, und den Open-World-Spielen auf der Xbox, die ihm ermöglichen, sich treiben zu lassen.

Tills Eltern haben selbst nie irgendein Computerspiel genug verstanden, um Spaß daran zu haben, oder nie genug Spaß daran entwickelt, um es verstehen zu wollen. Sie sprechen über Computerspiele, wie jemand, der nicht lesen kann, über Bücher spricht, und ihre Sorgen unterscheiden sich kaum von den Sorgen derjenigen, die zur vorletzten Jahrhundertwende ins Kino gingen und fürchteten, der Zug könne aus der Leinwand über sie hinwegrollen.

Trotzdem kauft Tills Mutter ihm GTA und Red Dead Redemption, denn auch die meisten anderen Eltern kaufen sie ihren Kindern, obwohl beide erst ab 18 freigegeben sind, und sie ist sich, auch wenn sie auf Ö1 immer wieder Gegenteiliges hört, sicher, dass Gewalt in Computerspielen nicht zu realer Gewalt führt, denn in Tills Wesen liegt keine Spur von Brutalität.

Erst als sie kurz vor den Semesterferien, ohne zu wissen, warum, abends vor seiner offenen Tür stehen bleibt und ihm einige Minuten zuschaut, statt gleich in ihr Zimmer zu gehen, kommen ihr Zweifel. Sie sieht, wie die von Till gelenkte Figur aus dem Spital entlassen wird, sich Waffen besorgt und wahllos auf Passanten zu schießen beginnt, auf Polizisten, die ihn zu stoppen versuchen, auf Sanitäter und Feuerwehrleute, sieht, wie er Granaten in Menschenmengen wirft, mit der Bazooka auf Polizeihubschrauber und FBI-Mannschaftswägen schießt, bis er irgendwann stirbt. Und wieder aus dem Spital entlassen wird und von vorne beginnt, auf die erstbesten Menschen zu schießen.

 

Das Missverständnis, das seitdem zwischen Till und seiner Mutter besteht, basiert darauf, dass sie seine digitalen Amokläufe als schlechtes Zeichen deutet, weil sie fürchtet, sie hingen mit der Scheidung zusammen, während er den Ge