Buchhandlung Schachtner

Suche

Die Zeit der VerlusteOverlay E-Book Reader

Die Zeit der Verluste

Daniel Schreiber

E-Book (EPUB)
2023 Hanser Berlin
Auflage: 1. Auflage
128 Seiten
ISBN: 978-3-446-29770-8

Rezension verfassen

€ 16,99

in den Warenkorb
  • EPUB sofort downloaden
    Downloads sind nur in Österreich möglich!
  • Als Hardcover erhältlich
Kurztext / Annotation
Nach seinem Bestseller 'Allein' geht Daniel Schreiber nun der Frage nach: Wie lässt sich ein Leben in Zeiten um sich greifender Verluste führen?
Nichts möchten wir lieber ausblenden als die Unbeständigkeit der Welt. Dennoch werden wir immer wieder damit konfrontiert. Wie gehen wir um mit dem Bewusstsein, dass etwas unwiederbringlich verloren ist? In seinem neuen Essay nimmt Daniel Schreiber so hellsichtig und wahrhaftig, wie nur er es kann, eine zentrale menschliche Erfahrung in den Blick, die unsere Gegenwart maßgeblich prägt und uns wie kaum eine andere an unsere Grenzen bringt: den Verlust von Gewissheiten und lange unumstößlich wirkenden Sicherheiten. Ausgehend von der persönlichen Erfahrung des Tods seines Vaters erzählt Daniel Schreiber von einem Tag im nebelumhüllten Venedig und analysiert dabei unsere private und gesellschaftliche Fähigkeit zu trauern - und sucht nach Wegen, mit einem Gefühl umzugehen, das uns oft überfordert.

Daniel Schreiber, geboren 1977, ist Schriftsteller, Übersetzer und Kolumnist bei WELTKUNST und ZEIT am Wochenende. Mit seinen hochgelobten und vielgelesenen Büchern Nüchtern (2014) und Zuhause (2017) hat er eine neue Form des literarischen Essays geprägt. Sein Buch Allein (2021) stand monatelang auf der SPIEGEL-Bestseller und Sachbuch-Bestenliste und war auch international ein großer Erfolg. Er lebt in Berlin.

Beschreibung für Leser
Unterstützte Lesegerätegruppen: PC/MAC/eReader/Tablet

I

Das sanfte Geräusch der Wellen, die gegen die Mauer schlagen. Entfernte Möwenschreie. Motorenlaute, die erst an- und dann wieder abschwellen. Als ich zum ersten Mal die Augen öffne, ist das Licht, das durch das Fenster fällt, noch gedämpft. Ich möchte weiterschlafen. Noch einmal versinken in das Bett, dessen Geruch mich an das Waschmittel meiner Kindheit erinnert. Noch einmal versinken in das Vergessen. Schon halb wach, glaube ich nicht, dass mir das gelingen wird. Doch als ich die Augen erneut öffne, ist die Dämmerung bereits dem Licht des Tages gewichen. Die Laute des Wassers haben sich verstetigt, ebenso wie das Schreien der Möwen, die Geräusche der Vaporettos, der Wassertaxis und der Boote, die die Supermärkte beliefern oder den Müll abfahren. Vereinzelte Stimmen rufen sich etwas auf Italienisch zu. Ich versuche, mich nicht zu bewegen, als könnte ich so noch kurz die Zeit anhalten.

Mich überkommt das Gefühl einer gewissen Dankbarkeit. Ich muss mich nicht fragen, in welcher Stadt und in welchem Hotel ich mich befinde. Und fühle mich ausgeruht. Die Nacht zuvor haben mich die Motorengeräusche der Boote wach gehalten, was mich nicht überraschte, denn in den bewegten anderthalb Jahren, die hinter mir liegen, ist mir auch der Schlaf abhandengekommen. Jener verlässliche Schlaf, den man als gegeben hinnimmt, bis er ausbleibt. Ich brauchte lange, um einzuschlafen, und wachte mitten in der Nacht auf. Selbst wenn es mir gelang, länger zu schlafen, begann ich den Tag mit dem Gefühl schwerer Müdigkeit.

Ich überlege, wie lange es her ist, dass ich mich so entspannt gefühlt habe wie an diesem Morgen. Und erschrecke. Erst jetzt fällt mir ein, woran ich beim Aufwachen seit langem als Erstes denke. Doch womöglich ist es ein gutes Zeichen, dass mich dieser Gedanke später als gewöhnlich findet.

Während ich mich in der Foresteria, dem Gästezimmer des Palazzo, umschaue, stelle ich fest, wie bekannt sie mir schon vorkommt, obwohl ich erst seit ein paar Tagen hier wohne. Die karierte Bettwäsche, die altmodischen Volants, das an ein Bullauge erinnernde ovale Fenster, der dunkle Schreibtisch mit seiner turmalingrünen Muranoglas-Lampe - alles umgibt eine Aura von Verlässlichkeit. Vielleicht liegt das an den reinlichen Gerüchen des Zimmers, an den unverwechselbaren Geräuschen der Stadt. Vielleicht daran, dass der Aufenthalt hier, wie ich hoffe, das Ende einer langen Zeit der Ruhelosigkeit einleitet.

Anderthalb Jahre lang habe ich mich verausgabt. Fast jede Woche war ich für Lesungen und Veranstaltungen auf Reisen. Zugleich ließ ich vieles bleiben, was für mein inneres Gleichgewicht notwendig war. Ich hörte auf, jene Menschen zu sehen, die mir nahestanden, ließ persönliche Nachrichten unbeantwortet, auch die meiner besten Freundinnen und Freunde und meiner Familie. Ich achtete immer weniger darauf, was ich aß und wie ich meinen Körper behandelte. Bezichtigte mich in Momenten der Schwäche des Selbstmitleids, um meine Disziplin zu stärken. Ich hatte zunehmend das Gefühl, mir, meiner Gefühlswelt und meinem Denken fremd zu werden. Meine Erschöpfung wurde zu einem Dauerzustand. In den Monaten zuvor war diese Phase kulminiert. Deswegen hatte ich fast alle Termine abgesagt und mich von den sozialen Medien zurückgezogen, wo ich nur noch ab und zu ein Lebenszeichen von mir gab. Mit dem Aufenthalt in Venedig sollte eine neue Phase beginnen.

Wenn ich ein Grundgefühl für die zurückliegende Zeit benennen müsste, dann das des Verlorenseins. Ich habe den Eindruck, in einer Welt zu leben, die mir bekannt vorkommt, die immer noch nach vielen der mir vertrauten Regeln funktioniert, aber dennoch durch eine andere, eine unheimliche Version ihrer selbst ersetzt wurde. Die Sprache entzieht sich mir, wenn ich darüber reden möchte. Sie ist nicht in Reichweite. Sie nickt mir erst aufmunternd zu, nur um sich dann, traurig den Kopf schüttelnd, wieder von mir zu v