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Das kalte BlutOverlay E-Book Reader

Das kalte Blut

Chris Kraus

E-Book (EPUB)
2017 Diogenes
Auflage: 2. Aufl.
1200 Seiten
ISBN: 978-3-257-60800-7

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Kurztext / Annotation
Zwei Brüder aus Riga machen Karriere: erst in Nazideutschland, dann als Spione der jungen BRD. Die Jüdin Ev ist mal des einen, mal des anderen Geliebte. In der leidenschaftlichen Ménage à trois tun sich moralische Abgründe auf, die zu abenteuerlichen politischen Verwicklungen führen. Chris Kraus erzählt die jüngere Geschichte Deutschlands aus einem aufregend neuen Blickwinkel.

Chris Kraus, geboren 1963 in Göttingen, ist Filmregisseur und Romancier. Sein Kinodebüt ?Scherbentanz? (mit Jürgen Vogel, Margit Carstensen und Nadja Uhl) machte ihn zum Shootingstar einer neuen Generation von Filmemachern. Spätere Filme (darunter ?Die Blumen von gestern?, ?Poll?) wurden vielfach ausgezeichnet, ?Vier Minuten? gewann 2007 den Deutschen Filmpreis als bester Spielfilm. Chris Kraus hat bisher drei Romane geschrieben und ist damit auch international erfolgreich. Der Autor lebt in Berlin.

Beschreibung für Leser
Unterstützte Lesegerätegruppen: PC/MAC/eReader/Tablet

{11}I Der rote Apfel
{13}1

Manchmal legt er mir die Hände auf die Schultern und sieht mir traurig ins Gesicht. Er sagt mir in den einfachsten Worten, wie leid ihm das tue, was geschehen sei und was vermutlich noch geschehe.

Er weiß aber gar nicht, was geschehen ist.

Noch weniger weiß er, was geschehen wird.

Er ist ein richtiger Hippie, vielleicht Anfang dreißig, mit langen, blonden Locken, wenn er rechts von einem liegt. Wenn er aber links an meinem Bett vorüberschlurft (um aus dem Fenster schräg nach unten zu den Babys zu starren), dann sehe ich jedes Mal mit neuer Verwunderung, dass ihm über dem Ohr ein kreisrundes, perlmuttfarbenes Loch in die Botticelli-Frisur rasiert worden ist, groß wie eine Untertasse. Mittendrin blinkt eine Titanschraube, deren Gewinde irgendwo unter der Hirnschale endet und dafür sorgt, dass der Schädel nicht auseinanderbricht.

Der Hippie hat also eigene Sorgen.

Er liegt - schon seit Wochen - neben mir, mehr Orient als Okzident, liegt da ohne Ungeduld, ein verschlissener Teppich mit Spuren von indischem Einfluss.

Eins-Sein mit dem Universum, sagt er.

Eins-Sein mit dir selbst.

Das ist sein Mantra.

 

{14}Wenn der Hippie tatsächlich hin und wieder aus dem Eins-Sein geschleudert wird, dann durch die Babys, die ein Stockwerk tiefer dösen.

Und natürlich darf man die Anfälle nicht vergessen.

Manchmal, bei den kleinsten Anzeichen einer Eruption, fahren die Pfleger ihn hinaus. Und wenn sie ihn zurückschieben, ist er stundenlang bewusstlos. Sie stülpen dann einen Schlauch über seine Schraube, die eigentlich eine Art Überdruckventil ist. Eines dieser piepsenden Geräte springt an. Und damit sein Kopf keinen Schaden nimmt, wird überschüssige Flüssigkeit aus seiner Hirnschale durch den Schlauch in einen Plastikbecher gepumpt.

Der Plastikbecher gehört der Nachtschwester. Sie heißt Gerda. Ihr Becher hat einen Henkel und schwarze Mickymausköpfe auf rotem Grund. Wenn der Becher bis zur dritten Mickymaus voll ist, schleicht sich Nachtschwester Gerda zu uns herein, schüttet das Zeug vorsichtig, ohne dass ein Tropfen danebengeht, in eine große Thermoskanne. Auch die anderen vier oder fünf Schädelfrakturen der Station werden von ihr angezapft. Sie schaut in die Plastikbecher und ist glücklich.

Nur ihr Mund ist dann nicht schön.

Später schmuggelt sie die Thermoskanne aus dem Hospital. Mit dem Sud werden Nachtschwester Gerdas häusliche Pflanzen gemästet. Muss unheimlich fruchtbar sein. Im Schwesternzimmer hängen Fotos an der Pinnwand von ihrem Wintergarten. Da ist ein Dschungel zu sehen aus Zier- und Nutzgewächsen, man kann nur den Hut ziehen, und zwischendrin Lianen und Vergissmeinnicht. Alles grün und riesig. Eine barocke Pracht, so wie auch {15}Nachtschwester Gerda selbst eine barocke Pracht ist, ins Weite, Überbordende drängend, und auch ihr Temperament.

 

So ist es kein Wunder, dass Nachtschwester Gerda dem Hippie einmal eine selbstgezogene, tennisballgelbe Tomate geschenkt hat, die sie mit seiner Hirnflüssigkeit aufgepäppelt hatte. Er aß sie mit Behagen und Stolz und wollte mir, wie es seine Art ist, auch was davon abgeben.

Er ist bestimmt ein wundervoller Mensch, so wie man sich Hippies eben vorstellt. Fast jeden, sogar mich, duzt er. Es ist ihm völlig egal, dass nicht zurückgeduzt wird. Eine Anrede im herkömmlichen Sinne gebraucht er nicht, weder »Herr« noch »Frau« noch sonst was. Im äußersten Fall wird man »Compañero« genannt. Zum Chefarzt sagt er »Chefcompañero«. Formen sind nichts. Auch zu Namen hat er ein völlig anderes Verhältnis als du oder ich. Er glaubt, man solle eher nach jeweils in den Vordergrund tretenden Charaktereigenschaften heißen, so wie in Papua-Neuguinea, wo man im Laufe eines Lebens dr